Von Roger Köppel: Das Schweizer Bankgeheimnis ist Ausdruck des berechtigten Misstrauens der Bürger gegen den Staat. Eine Art Selbstverteidigung. Deswegen muss es verteidigt werden. Auch die Deutschen profitieren davon.
Mit der Unerbittlichkeit eines Lateinlehrers legte Ex-Finanzminister Hans Eichel seinen Standpunkt im Schweizer Fernsehen dar: Man habe nichts gegen das Bankgeheimnis, und man habe nichts gegen Steuerwettbewerb, aber es sei nun mal eine Tatsache, dass die Schweizer Gesetze und Finanzbetriebe Anreize für kriminelle Steuerflucht aus Deutschland schaffen. Es gebe keinen Zweifel, dass Deutsche beträchtliche Vermögenswerte mit unlauteren Motiven unerkannt außer Landes bringen dank der Beihilfe schweizerischer Banken. Vor allem etwas irritierte Eichel heftig: Die Schweiz unterscheidet zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung. Betrug wird hart bestraft. Steuerhinterziehung lediglich gebüßt. Im einen Fall leistet die Schweiz Rechtshilfe, im anderen nicht. Diese Unterscheidung, betonte der frühere Minister, sei eines Rechtsstaats nicht mehr würdig. Die Schweiz solle sich doch bitte an die internationalen Regeln halten und auch Steuerhinterziehung als Verbrechen werten. Das Bankgeheimnis sei entsprechend aufzuweichen.
Auf den ersten Blick leuchten Eichels Argumente ein, und es gibt vermutlich Millionen Deutsche, die ihm auf Anhieb zustimmen würden: Steuerbetrug und Steuerhinterziehung sind doch Straftaten, und wer Steuerhinterziehung duldet, sich dumm stellt und daran auch noch massiv verdient, macht sich zum Komplizen krimineller Machenschaften. Es kann nicht sein, dass Schweizer Bankiers Kapitalflucht aus dem Ausland stimulieren und sich auf juristische Spitzfindigkeiten herausreden. Mehr noch: Die Entkriminalisierung der Steuerhinterziehung durch die Schweiz ist selber ein krimineller Akt, durch den sich die Rosinenpicker-Eidgenossen wieder einmal Wettbewerbsvorteile im Finanzsektor erschwindeln. Kein vernünftiger Mensch, so geht das Argument, kann im Ernst den Standpunkt vertreten, dass Steuerhinterziehung als Kavaliersdelikt zu betrachten sei, als leichte Übertretung, die man nur mit Bußen ahndet. Die Ansicht wird auch in der Schweiz bis weit ins bürgerliche Lager geteilt. Das schlechte Gewissen sagt, Hans Eichels Analyse stimme, das Bankgeheimnis sei aufzugeben, und Steuerhinterziehung sei so schlimm wie der Steuerbetrug.
Obschon es alle sagen und viele glauben, ist das Gegenteil richtig. Eichel irrt. Die Schweiz hat recht, wenn sie Steuerhinterziehung nicht zum Kapitaldelikt erklärt. Es ist sinnvoll und staatspolitisch vernünftig, zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung zu unterscheiden. Es wäre ein Kapitalfehler, würde sich die Schweiz auf Druck von Deutschland und Europa zwingen lassen, diese weithin bekämpfte Unterscheidung aufzugeben. Man muss sich auch nicht schämen dafür, dass der Staat gegenüber Steuerhinterziehung zwar Bußen und Nachsteuern fordert, aber eben ausdrücklich auf internationale Rechtshilfe und eine Anwendung des Strafgesetzbuches verzichtet. Erstens ist Betrug tatsächlich gravierender als Hinterziehung. Zweitens haben wir es bei dieser feinen rechtlichen Differenzierung nicht mit einem faulen Trick der Banken zu tun, sondern, ganz im Gegenteil, sie ist Ausdruck freiheitlicher Gesinnung und rührt somit an den Kern der schweizerischen Staatsidee. Es geht darum, die Privatsphäre zu schützen. Die Person und ihr Eigentum gehen den Interessen des Staates voran. In Deutschland ist und war es meistens umgekehrt.
Die Schweiz ist im Unterschied zu Deutschland und zur EU von unten nach oben aufgebaut. Die Bürger dürfen über ihre Gesetze direkt abstimmen, sie haben das Recht, durch Referenden und Initiativen Einfluss zu nehmen auf die Politik. Die Steuersätze sind eine ureigene Domäne des Bürgers. Die Kostenkontrolle wird nicht den Parlamenten überlassen, sondern von den Wählern wahrgenommen. Abgaben müssen bewilligt, Ausgaben vors Volk gebracht werden. Der Staat gehört den Bürgern, und nicht die Bürger gehören dem Staat. In weiser Voraussicht und gesunder Skepsis haben die Gründer der modernen Eidgenossenschaft über ihre zahlreichen Gestaltungs- und Verhinderungsinstrumente hinaus aber noch eine letzte Sicherung gegen staatlichen Machtmissbrauch und Misswirtschaft eingebaut: Sie haben sich die Möglichkeit bewahrt, notfalls außerhalb des eigenen Fiskalsystems private Vorsorge zu betreiben. Sie können auf eigenes Risiko, aber ohne strafrechtliche Konsequenzen, Vermögen horten, ohne es den Behörden zu melden. Was in der angelsächsischen Rechtslehre als Widerstandsrecht schon der Staatsphilosoph Thomas Hobbes zum Wesensmerkmal einer freiheitlichen Ordnung erklärte, ist in der Schweizer Tradition die Steuerhinterziehung. Sie ist die letzte Notfall- und Notwehrmaßnahme, die der Bürger in Anspruch nehmen kann, um sich vor den Begehrlichkeiten des Staates in Sicherheit zu bringen, ohne gleich auswandern zu müssen.
Man kann es beklagen, man kann es verurteilen, man kann es wie Eichel fälschlicherweise als Ausfluss einer liederlichen Rechtsauffassung deuten: Die schweizerische Milde gegenüber Steuerhinterziehern ist der Einsicht geschuldet, dass der Staat keinen heiligen Anspruch auf das Eigentum seiner Bürger erheben kann. Politisch gewollte Steuersätze können zu hoch sein und damit zu Enteignungen führen, gegen die sich die Leute eigenverantwortlich wehren dürfen, selbst wenn sie dadurch in Konflikt mit der Zentralgewalt geraten. Steuerhinterziehung ist verpönt, aber sie ist unter Inkaufnahme persönlicher Risiken machbar. Dieses Schlupfloch haben sich die Schweizerinnen und Schweizer rechtlich gewährt, um staatliche Macht zu brechen. Man darf am Fiskus vorbei Goldbarren im Garten vergraben, oder man kann versuchen, gewisse Konten nicht zu deklarieren. Das Bankgeheimnis schützt nicht dubiose Geschäfte, es sichert elementare bürgerliche Rechte. Die strafrechtliche Tolerierung von Steuerhinterziehern ist der Preis, den die Schweiz um der Freiheit willen zu zahlen bereit ist.
Das mag für deutsche Ohren seltsam klingen, aber vielleicht wird es einleuchtender, wenn man das Problem etwas distanziert betrachtet. Warum eigentlich gibt es Kapitalflucht aus Kerneuropa in angelsächsische Länder oder in die Schweiz? Warum verschieben unzählige Deutsche, aber auch Franzosen und Skandinavier Teile ihres Vermögens auf Banken außerhalb des eigenen Rechtssystems? Der Schweizer Privatbankier Konrad Hummler hat in einer hervorragenden Studie nachgewiesen, dass nicht allein die hohen Steuersätze in Deutschland Kapitalflucht auslösen, sondern ein Vertrauensverlust gegenüber dem deutschen Wohlfahrtsstaat, dem man die Sicherung der eigenen Altersvorsorge nicht mehr zutraut. Das Problem ist bekannt: Das hochgelobte europäische Sozialmodell krankt an der Demografie. Die umlagefinanzierten Systeme brechen ein. Immer weniger Steuerzahler müssen immer mehr Rentner alimentieren ohne die Hoffnung darauf, das Geld, das man einzahlte, jemals zurückzubekommen. Die Folge sind steigende Steuern, aggressive Steuerfahnder und Bürger, die ihr Vertrauen ins eigene System verlieren. Nicht das Bankgeheimnis, sondern die Sorge ums eigene Vermögen befördert die Kapitalflucht nach England oder in die Schweiz.
Die deutschen Politiker sollten das Problem ernst nehmen und nicht die Symptome bekämpfen. Nach mehreren Weltkriegen, gewaltigen Revolutionen, menschlichen Opfern, und Zusammenbrüchen, bei denen mehrfach riesige Vermögen untergingen, gibt es in vielen Ländern Europas, aber vor allem in Deutschland eine verständliche Nachfrage nach einem stabilen Hafen, wo man einen Notvorrat parken kann. Die Wiedervereinigung brachte den deutschen neue Lasten, die ertragen und getragen werden müssen. Jetzt verschärft sich der Abgabendruck aufgrund von Finanzierungslücken im Sozial- und Rentenstaat. Diese hausgemachten Probleme lassen sich durch eine Aufrüstung der Steuerfahndung nicht aus der Welt schaffen. Die Kriminalisierung des Schweizer Bankgeheimnisses samt Einmischung in andere Rechtssysteme ist purer Populismus. Gerade die Deutschen sollten aus eigener leidensvoller Erfahrung verstehen, wie wichtig die Existenz von Oasen ist, in denen man Eigentum vor staatlicher Verwüstung retten kann. Das Schweizer Bankgeheimnis liegt im deutschen Interesse.
Originalartikel: Lob der Steuerhinterziehung welt-online
Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen. So isses.
Wenn der Staat illegal Daten ankauft um die Illegalität mit illigalen Mitteln zu bekämpfen – dann ist das keine Demokratie. Also muss man sich nicht an die Spielregeln halten.
@Daniel: Du hast mit dem Bericht sicher recht, aber ob das Bankgeheimnis so schnell fällt? In erster Linie geht es darum, das der deutsche Staat überall rumschnüffelt. Datenverkehr, Telefonate, Finanzen – also der gläserne Bürger. Deshalb habe ich im Text den wichtigen Teil Fett abgedruckt.
Ich denke um das geht es hauptsächlich.
Steuerhinterziehung in der Schweiz sollte doch in nächster Zeit sowie noch unsicherer werden, wenn man die auf https://www.investmentsparen.net/blog/geldanlage/geldanlage-im-ausland/schweizer-bankgeheimnis-vor-dem-aus.html veröffentlichten Fakten ins Kalkül zieht. Wenn deutsche Finanzbeamte schon heute beim bloßen Verdacht des Umsatzsteuerbetruges eine Offenlegung von Schweizer Konten fordern können, dann ist das schon ein wahres Scheunentor, denn es reicht ein kleiner Fehler in der Buchhaltung, um den Fahndern Anlass zu geben, nach versteckten Konten zu suchen.